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Datum: 26.05.2023

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Warum Lebensmittelverbände und Werbeindustrie sich gegen eine notwendige Ernährungswende beim Zuckerkonsum stemmen. Ein Gastbeitrag von Carolin Krieger

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Quelle: Gert Baumbach - vzbv

Die Deutschen werden immer dicker. Die Rezepte, um das zu ändern, liegen auf dem Tisch. Doch Lebensmittel- und Wirtschaftsverbände geben immer wieder ihren Senf dazu – und ihre Meinung hat offensichtlich Gewicht.

Bei dieser Szene geht einem regelrecht das Herz auf. „Ich sehe was, was ihr nicht seht“, sagt die Mama, als sie in der Einkaufstasche kramt und ihre erwartungsfrohen Kinder anlächelt. „Und das ist blau, total knuddelig.“ Als Sohn und Tochter ein niedliches Nilpferd entdecken, rufen sie laut „Und so lecker“ – und schnappen sich freudestrahlend den „Happy Hippo Snack“ von Ferrero. Was der TV-Spot nicht verrät: Die fürsorgliche Mama hat ihren Sprösslingen gerade eine ordentliche Kalorienbombe angedreht. Denn die „knubbelige Knusperwaffel“ besteht zu 82,5 Prozent aus Fett und Zucker. Womit wir auch schon beim Problem wären. Für die WHO haben Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) weltweit „epidemische Ausmaße“ erreicht.

Ähnlich ist die Lage in Deutschland. Laut Daten des Robert Koch-Instituts sind knapp 47 Prozent der Frauen und mehr als 60 Prozent der Männer von Übergewicht betroffen. Jedes sechste Kind in Deutschland gilt inzwischen als übergewichtig oder adipös, Tendenz steigend. Dabei haben ungesunde Ernährung, Übergewicht und Adipositas auch eine soziale Komponente. Betroffen sind vor allem Menschen mit geringerem Einkommen.

Die Folgen haben es in sich: Menschen mit Adipositas haben eine niedrigere Lebenserwartung, ein erhöhtes Risiko, Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck zu bekommen, oder leiden an den psychischen Folgen, die sie beispielsweise durch Ausgrenzung erleben. Aber auch die Gesellschaft leidet. Auf unglaubliche 60 Milliarden Euro pro Jahr schätzt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft die durch Fettleibigkeit verursachten Gesundheitskosten in Deutschland. Kosten, die die Allgemeinheit zahlt.

Andere dagegen profitieren. Allein die deutsche Süßwarenindustrie machte 2021 mehr als 14 Milliarden Umsatz. Deren Unternehmen dürfte es gar nicht schmecken, was Wissenschaftler*innen und Zivilgesellschaft fordern. Denn die Rezepte, um Übergewicht, Adipositas und eine ungesunde Ernährungsweise politisch zu bekämpfen, sind relativ unstrittig und liegen seit Jahren vor.

Mit Nutri-Score und Steuer gegen Zuckerkonsum

Mit dem Nutri-Score können Verbraucher*innen einfach und übersichtlich die Nährwertzusammensetzung von Lebensmitteln einer Produktkategorie erkennen und miteinander vergleichen. Der Nutri-Score wird als fünfstufige Farbskala von einem grünen A zu einem gelben C bis zu einem roten E dargestellt. Inhaltsstoffe, deren übermäßiger Verzehr sich negativ auf die Gesundheit auswirken kann, wie Zucker, gesättigte Fettsäuren oder Salz, werden mit solchen verrechnet, die einen positiven Einfluss haben können: Ballaststoffe, Eiweiß, Obst, Gemüse, Nüsse oder Hülsenfrüchte. Die vereinfachte Darstellung auf der Vorderseite der Verpackung erleichtert eine schnelle Einschätzung.

Der Nutri-Score ist wissenschaftlich basiert, unabhängig erarbeitet und auf seine Wirkung überprüft. Doch die Lebensmittelbranche lief dagegen jahrelang Sturm. Inzwischen gibt es dieses farbige Nährwertsystem in Deutschland – aber nur auf freiwilliger Basis. Für einen EU-weiten Einsatz muss sich die Bundesregierung bei der Europäischen Kommission einsetzen. Doch bislang ist fraglich, mit welchem System zukünftig in Europa verpflichtend gekennzeichnet wird. Eine Entscheidung steht noch aus.

Mit einer Steuer auf Süßgetränke konnten Länder wie Großbritannien oder Chile etwa den Zuckergehalt in Getränken zurückfahren. Das empfiehlt auch die Weltgesundheitsorganisation schon seit vielen Jahren. In Deutschland wartet man darauf vergeblich – und auch im Ampel-Koalitionsvertrag taucht die Idee nicht auf.  

Bei einer gesunden oder ungesunden Ernährungsweise geht es nicht nur um Zucker, sondern auch um zu viel Salz, bestimmte Fette oder auch um ein Zuviel an Energiezufuhr insgesamt. Der Verzehr von Fertiglebensmitteln mit viel Zucker, Salz oder gesättigten Fetten ist nicht der einzige Grund für eine unausgewogene Ernährung, aber ein Teil des Problems. Und eines, an dem die Lebensmittelwirtschaft etwas ändern kann.

In Deutschland hat die Bundesregierung im Jahr 2018 deshalb eine Nationale Reduktionsstrategie für weniger Zucker, Fett und Salz in Fertiglebensmitteln auf den Weg gebracht. In diesem Rahmen hat sich die Lebensmittelwirtschaft freiwillig dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2025 bestimmte Reduktionsziele zu erreichen. Sie verspricht weniger Zucker in Erfrischungsgetränken oder weniger Salz in der Tiefkühlpizza. Diese freiwilligen Reduktionsziele sind nur leider nicht sehr ehrgeizig. Zudem bleibt unklar, was passiert, wenn die Unternehmen auch diese Ziele verfehlen. 

Mit Werbeverboten für Fettbomben und fettige Snacks haben zahlreiche Länder wie Spanien, Norwegen oder Irland den Konsum von Junk-Food beschränkt. Auch in Deutschland lehnen laut einer aktuellen Umfrage 85 Prozent der Verbraucher*innen an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel ab. Es gibt zudem ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis von Wissenschaftler*innen, Mediziner*innen, Krankenkassen und Elternvertretungen, welches die Politik zum Handeln auffordert.

Teile der Lebensmittel- und Werbewirtschaft kritisieren erwartungsgemäß ein gesetzliches Verbot, gerne mit Verweis auf bestehende Selbstregulierungen. Tatsächlich ist es aber so, dass in Ländern mit gesetzlichen Werbeverboten oder Beschränkungen der Junk-Food-Konsum zurückgegangen ist. In Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen der Industrie hat er dagegen im selben Zeitraum zugenommen.

Die Verantwortung allein auf die Verbraucher*innen zu schieben und die dringend notwendigen politischen Instrumente nicht zu nutzen, verfehlt das Ziel einer nachhaltigen und sozial gerechten Ernährungspolitik. Was spricht dagegen, unser Ernährungsumfeld so zu gestalten, dass die gesündere Wahl die leichtere Wahl wird?

Und im Übrigen: Lebensmittel, die den Nährwertkriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Bewerbung ausgewogener Lebensmittel entsprechen und bestimmte Höchstgrenzen für Zucker, Fett und Salz nicht überschreiten, können eifrig weiter beworben werden. Doch davon will die Land-  und Lebensmittelwirtschaft wenig hören.

Werbung für Süßes und Fettiges ist ein Millionengeschäft. Allein im deutschen Fernsehen wurden im vergangenen Jahr laut den Marktexpert*innen von Nielsen Media Werbespots für Süßwaren im Wert von knapp 900 Millionen Euro ausgestrahlt. An der Spitze: Branchenprimus Ferrero mit 655 Millionen Euro.

Für die Industrie ist die Rechnung relativ simpel. Bei ungesunden Lebensmitteln sind die Gewinnmargen hoch. Fett und Zucker sind günstige Rohstoffe. Kein Wunder also, dass laut einer foodwatch-Untersuchung 86 Prozent aller Lebensmittel, deren Werbung sich durch Bärengesichter, Comic-Figuren oder Glitzer an Kinder richtet, nicht den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation entsprechen. Sie sind zu süß, zu salzig oder zu fettig.

Laut einer AOK-Studie von 2020 liegt der durchschnittliche Zuckergehalt von Kindercerealien wie Cornflakes und Müsli deutlich höher als der aller Frühstückscerealien für Erwachsene. Besonders krass: 99 Prozent der angebotenen Kindercerealien überschritten die von der WHO geforderte Zuckerhöchstgrenze.

Nebelkerze der Werbeindustrie

Doch der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft wiegelt ab. Eines seiner Argumente gegen Werbeverbote: Werbeaufwendungen seien im ersten Jahr der Pandemie gesunken, gleichzeitig sei Übergewicht aber gestiegen. Das ist eine klassische Nebelkerze, die nichts über die tatsächliche Wirkung von Lebensmittelwerbung aussagt. Denn das Marketing für Kinder prägt nachweislich Vorlieben, Einkaufsverhalten und Essverhalten. In der Pandemie spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, so wie es auch bei der Entstehung von Übergewicht der Fall ist. Es gibt nicht die eine Ursache, genauso wenig, wie es die eine Maßnahme gibt. Vielmehr ist es eine Mischung von Aktionen, die langfristig zu Veränderungen führen können.

Der Ball liegt nun bei der Bundesregierung. Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir ist der Wille sicher nicht abzusprechen. Er will Nutri-Score, Werbeschranken und Reduktionsziele für weniger Zucker, Fett und Salz in Fertiglebensmitteln für bestimmte Zielgruppen voranbringen.

Doch er ist wohl selber skeptisch, ob er sich durchsetzen können wird. Er fühle sich manchmal wie Don Quijote, sagte er neulich im „Spiegel“ mit Blick auf seine politischen Gegner*innen.  Am Ende muss er entscheiden. Folgt er den Empfehlungen von Wissenschaft und Verbraucher*innen – oder hört er auf die Stimmen aus der süßen Ecke?

Deutschland sollte sich ein „Weiter so“ in der Ernährungspolitik nicht leisten. Die gesündere Wahl muss die leichtere Wahl werden. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Die Bundesregierung muss ihren durchaus guten Vorsätzen Taten folgen lassen und eine Ernährungswende einleiten, die eine sozial gerechtere, nachhaltigere und gesündere Ernährung ermöglicht. Packen wir es an.

Hinweis

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Südlink 203 (März 2023): Bittersüßer Zucker: Gesundheit und Umwelt in Gefahr, Dossier S. 9f. unter dem Titel: Ich sehe was, was du nicht siehst.

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