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Datum: 03.02.2023

„Wir streiten für klare Regeln“

Interview mit vzbv-Vorständin Ramona Pop zu Lebensmittelpreisen, Tierhaltung und Ernährungsstrategien

Zu sehen ist ein Portrait von Ramona Pop. Im Hintergrund ist der Außenbereich zu erkennen mit Treppenstufen und begrünten Laubbäumen.

Quelle: © Die Hoffotografen GmbH / Christine Blohmann / vzbv

Frau Pop, brauchten Verbraucher niemals zuvor mehr Schutz als heute, wo sie mit multiplen und großen Krisen konfrontiert sind?

Das ist ganz eindeutig so. Vor allem die Energiepreise und auch die Lebensmittelpreise belasten die Menschen sehr. Eine allumfassende Krise wie diese kannten wir doch seit Jahrzehnten nicht. Unsere zentrale Aufgabe ist es, für Transparenz und klare Regeln zu streiten und dafür zu sorgen, dass Entlastungen in der Krise schnell ankommen. Verbraucherinnen und Verbraucher erkundigen sich, ob die letzte Preiserhöhung ihres Versorgers rechtens war. Oder weil sie aus einem Vertrag herauskommen möchten. Es kamen und kommen auch sehr viele, oftmals verzweifelte Menschen in die Verbraucherzentralen vor Ort, weil sie einfach nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen begleichen sollen.

Ist die Corona-Pandemie noch ein Thema?

Wir nehmen die Pandemie als Thema bei den Anfragen kaum noch wahr. Es gab eine große Welle, mit Themen wie Reiserücktritten und Reiseabsagen, was Versicherungen leisten, Flugausfällen etc. Aber Fahrgastrechte bleiben gefragt, die Deutsche Bahn etwa sorgt mit ihren Verspätungen immer wieder für Ärger. Die Pandemie an sich ist nicht mehr so präsent, die Energiepreiskrise ist im Verbraucherschutz an ihre Stelle getreten.

Sie sprachen einmal von wertebasiertem Verbraucherschutz, was verstehen Sie darunter?

Viele Menschen denken, Verbraucherschutz sei ein nettes Thema für gute Zeiten. Gerade in Krisenzeiten ist Verbraucherschutz aber kein Luxusthema, sondern Gebot der Stunde. Verbraucherschutz hat eine starke soziale Dimension. Es geht um die Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wie können wir Menschen auch mit geringem Einkommen teilhaben lassen, wie können wir diese schützen? Verbraucherschutz hat zudem eine nachhaltige, Ressourcen schützende Komponente. Das trifft zum Beispiel die Themen Ernährung und Energie. Es geht darum, Ressourcen mit Blick auf künftige Generationen zu bewahren.

Sie sind oberste Verbraucherschützerin, aber außerhalb Ihrer Funktion selbst Verbraucherin. Wann dachten Sie zuletzt, das wäre jetzt ein Thema für die Verbraucherzentrale?

Sehr klassisch: Als ich aus einem Telekommunikationsvertrag nicht herauskam, weil es einfach sehr lange dauerte, um herauszufinden, wohin ich meine Kündigung eigentlich richten muss. Deswegen ist der Kündigungsbutton eine so großartige Sache, der seit Sommer 2022 gilt, etwa für Telekommunikationsanbieter oder Streamingdienste. Allerdings verstecken Unternehmen den Button noch zu häufig, hier sehen wir Verbesserungspotenzial.

Das bedeutet?

Es ist inakzeptabel, dass noch immer nicht alle Unternehmen den Kündigungsbutton fristgerecht umgesetzt haben. Sie hatten genügend Zeit, sich mit der neuen Rechtslage und deren Auswirkungen auf die Praxis auseinanderzusetzen. Bei fast 3 000 untersuchten Webseiten haben wir nur in knapp drei von zehn Fällen eine gesetzeskonforme Umsetzung festgestellt. Verbraucher berichten uns sogar, dass in Einzelfällen über den ausgewiesenen Kündigungsbutton das Vertragsverhältnis nicht beendet werden konnte, sodass auch noch nach Vertragsende Geldbeträge weiter abgebucht wurden.

Apropos Verbesserungen: Welche Rückmeldungen bekommen Sie zu den Energie-Preisbremsen? Funktionieren diese?

Wir hoffen, dass sie funktionieren. Erstmalig für die privaten Haushalte wirksam werden die Preisbremsen aber erst im März. Das werden wir uns ansehen. Ein bisschen läuft es wie bei einer großen Gießkanne: Alle bekommen jeweils 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs gedeckelt. Ich frage mich aber: Wie geht es später einmal weiter? Die Preisbremse wirkt bis 2024, jedoch kann niemand die Preisentwicklung bei Strom und Gas vorhersagen. Instrumente, die wie jetzt in die volle Breite gehen, wird der Staat langfristig nicht finanzieren können. Deswegen ist es umso wichtiger, dass mit gezielten Maßnahmen wie Direktzahlungen in Zukunft sozial gestaffelt staatliche Unterstützung ermöglicht wird.

Ernährungsminister Cem Özdemir sagte kürzlich, dass man bei der freiwilligen Nährwertkennzeichnung Nutri-Score in Deutschland auf einem guten Weg sei, immer mehr Firmen machten mit. Teilen Sie diese Einschätzung?

Je mehr mitmachen, umso besser. Die Lebensmittelampel ist eine verlässliche Hilfe für Verbraucher bei der Auswahl von Produkten mit einer besseren Nährstoffzusammensetzung. Aber klar ist: Damit der Nutri-Score seine volle Wirkung entfalten kann, muss er auf allen Lebensmitteln zu finden sein. Nur dann kann man alle Produkte innerhalb einer Kategorie miteinander vergleichen. Außerdem brauchen wir einen verbindlichen EU-Rahmen. Daran mangelt es leider weiterhin. Die Bundesregierung ist aufgefordert, bei diesem Thema tatsächlich jetzt nach vorne zu gehen mit den Ländern, die das auch mit unterstützen.

Italien gehört zu den eher widerspenstigen Ländern beim Nutri-Score…

Manche Staaten haben immer noch die Sorge, dass der Score ihre traditionellen Lebensmittel, beispielsweise Käse oder Schinken, als Produkte der mediterranen Ernährung benachteiligen könnte. Die Argumentation trägt aber nicht ganz, weil gerade Fisch und Gemüse und nicht Käse und Wurst die mediterrane Küche dominieren. Hier muss die Bundesregierung Überzeugungsarbeit leisten: Es wäre doch fatal, wenn die EU-Kommission die bisherigen Planungen über den Haufen werfen würde, und wir alle wieder von vorn beginnen müssten.

Transparenz als oberstes Verbraucherschutzprinzip?

Transparenz ist ungemein relevant. Die Verbraucher, das ist auch unsere Erfahrung, möchten gut, nachhaltig und auch gesund konsumieren. Aber sie brauchen natürlich dafür eben auch eine verständliche Kennzeichnung. Derzeit erleben wir aber oft Greenwashing oder Tierwohlwashing, weil Angaben auf Verpackungen zu unverbindlich sind.

Harte Kritik…

Der Verbraucher greift nach einer Packung und glaubt, sich damit gesund zu ernähren. Das gezeigte Bild eines schönen Stalls auf der Verpackung sollte stets auch der Wirklichkeit entsprechen. Wer mit Nachhaltigkeit und Klimaneutralität wirbt, muss Klarheit, Wahrheit und Transparenz vor Augen haben.

Beim Thema Tierhaltungskennzeichnung hat die Ampel erste Pflöcke gesetzt, es gibt aber auch privatwirtschaftliche Kennzeichen. Der Bauernverband pocht zudem auf Angaben zum Herkunftsland, um wirkliche Transparenz an der Ladentheke zu schaffen. Der Minister sagt, wenn Deutschland nicht vorangehe, würde sich international gar nichts bewegen. Wie lautet Ihre Bewertung?

Wir brauchen eine klare, verbindliche und transparente Tierhaltungskennzeichnung. Dafür setzen wir uns schon sehr lange ein. Alle Umfragen, die wir machen, belegen, dass sich die Verbraucher und Verbraucherinnen dieses als Grundlage für ihre Kaufentscheidung wünschen. Aber das kann tatsächlich nur der Anfang sein und nur ein erster Schritt.

Sie sehen also Potenzial für weitere Maßnahmen?

Wir sehen durchaus Optimierungsbedarf. Natürlich muss zuallererst für die Kaufentscheidung eine Kennzeichnung her, die auch verständlich ist und die eben nicht bewusst oder unbewusst in die Irre führt. Viele fragen sich zudem: Wie wurde das Tier transportiert? Das Kennzeichen muss zudem auf andere Tiergruppen und auch verarbeitete Produkte ausgeweitet werden, wie auch auf Wurst oder gastronomisch verarbeitete Ware. Ebenso brauchen wir die Ausweitung auf die gesamte Lebensspanne des Tieres. Die Kennzeichnung, die jetzt diskutiert wird, ist tatsächlich nur der Anfang. Ein verbindliches Tierwohllabel muss jedenfalls über die Haltungsformkennzeichnung des Handels hinausgehen.

Braucht es mehr finanzielle Förderung für Tierwohl-Ställe?

Geld würde den Wandel sicher beschleunigen. Was bisher zugesagt worden ist, ist schon mal ein guter Anfang. Die Landwirtschaft benötigt zweifellos Planungssicherheit über den Tag hinaus. Der Erfolg der Transformation eines Tierhaltungssystems benötigt mehr als nur zwei oder drei Jahre der öffentlichen Finanzierungshilfen. Ich bin aber auch überzeugt: Wenn Tierwohl deutlich erkennbar ist, zahlen Menschen dafür auch mehr.

Sie sehen Verantwortung bei Handel und den Erzeugern, aber trägt der Verbraucher auch ein Stück Verantwortung?

Natürlich, aber eben nicht allein. Vor dem Einkaufsregal kann ich dann Verantwortung übernehmen, wenn ich weiß, worüber ich entscheide, bevor ich es in meinen Einkaufskorb lege.

Mitten in die Inflationsdebatte hinein hat das BMEL seine Ernährungsstrategie vorgelegt. Wie ist Ihre erste Einschätzung?

In der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik kann sich Deutschland ein Weiter-so ökonomisch und ökologisch nicht leisten. Es ist ein Skandal, dass eine ausgewogene Ernährung in einem so reichen Land für viele Menschen mit geringem Einkommen unmöglich ist. Nun gilt es, den Vorsätzen Taten folgen zu lassen und eine sozial gerechte Ernährungswende einzuleiten. Da geht es eben darum, tatsächlich Geld zu investieren und auch Regulierungen auf den Weg zu bringen. Wichtig ist, dass dort, wo Gemeinschaftsverpflegung angeboten wird, Kitas, Schulen beispielsweise, der Bund zusammen mit den Ländern Verabredungen trifft für eine deutlich bessere und gesündere Ernährung.

Sowohl Cem Özdemir als auch die Wirtschaft haben zuletzt mehrfach Dialogbereitschaft signalisiert. Die Ernährungsbranche mahnt zugleich Realitätschecks und Folgenabschätzungen an.

Es gibt unterschiedliche Rollen und unterschiedliche Interessen in dieser Diskussion. Wir vertreten die Verbraucher, die sagen, wir möchten ein gutes Produkt haben – das zugleich bezahlbar ist und bei dem nachvollziehbar ist, wie es hergestellt worden ist. Ich finde, das ist nichts, was eine Lebensmittelindustrie überfordern sollte. Langfristig wird die Nachfrage für gesunde, vernünftig hergestellte Lebensmittel weiter steigen, es vollzieht sich ein Bewusstseinswandel. Insofern steht auch die Lebensmittelindustrie vor einer großen Veränderung, weil sich eben die Nachfrage verändert. Und vielleicht ist es so wie mit anderen Industrien: Man sollte den Zug der Zeit nicht verpassen.

Das gilt doch aber auch für den Staat, der der Wirtschaft gute Rahmenbedingungen bieten sollte, oder?

Richtig: Was in unseren Supermärkten und auf unseren Tellern landet, ist auch eine politische Frage. Wenn alle mehr Tierwohl und eine Ernährungswende wollen, sollten das Verbraucher und Verbraucherinnen nicht allein schultern müssen. Hier muss der Staat eben den Umbau ausreichend fördern.

Belastend für den Handel können neue Werbebeschränkungen werden.

Diese Debatte wird in vielen Industrieländern geführt, weil es Probleme gibt mit Übergewicht, mit Folgeerkrankungen, die eben vor allem durch übermäßigen Zucker- oder Fettkonsum verursacht werden. Im Koalitionsvertrag gibt es dazu eine klare Verabredung, deshalb gehe ich fest davon aus, dass man sich um einen besseren Schutz von Kindern bemühen wird. Mit dem Rund-um-die-Uhr-Marketing für süße, salzige und fetthaltige Speisen muss Schluss sein.

Die Wirtschaft betont: Werbung ist Wettbewerb und Wettbewerb ist Marktwirtschaft. Wer Werbung einschränkt, schränke den Markt ein. Sie sprachen gar von Werbe-Bannmeilen rund um Kindergärten oder Schulen.

Richtig, und das wäre auch sehr sinnvoll. Übrigens fänden wir es nicht ausreichend, wenn eine Regulierung nur Kindersendungen betreffen würde. Untersuchungen zeigen uns, dass viele Kinder mit ihren Eltern bis in den Abend hinein auch Sportsendungen oder ähnliches schauen.

Haben Sie Erkenntnisse, wie das in anderen Ländern funktioniert? Zahlreiche Länder wie Portugal oder Großbritannien sind uns hier voraus, beschränken oder verbieten Werbung für Lebensmittel, die zu süß, fettig oder salzig sind. Tatsächlich ist der Junk-Food-Konsum in Ländern mit solchen Regeln in fast 15 Jahren um knapp neun Prozent zurückgegangen. In Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen der Industrie hat er dagegen im selben Zeitraum zugenommen. Ein Werbeverbot wäre aber nur Teil eines größeren Umsteuerns. Zum Beispiel sollte die Bundesregierung auch Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von der Mehrwertsteuer befreien. Das wäre doch ein guter Anreiz, gesunde Lebensmittel den Menschen nahezubringen. Frisches Obst und Gemüse sind wie alle anderen Produkte teurer geworden, und wir wissen auch: Wenn weniger Fleisch konsumiert werden soll, sind Hülsenfrüchte ein guter Eiweißersatz.

Sie haben vor kurzen eine Übergewinnsteuer auch für die Nahrungsmittelbranche ins Spiel gebracht. Inwieweit haben Nachfragen zur Preisentwicklung zugenommen?

Die Verbraucherzentralen erreichten in den vergangenen Monaten vermehrt Anfragen zu steigenden Lebensmittelpreisen. Menschen erkundigten sich vor allem, wie sie sich gesund und nachhaltig ernähren könnten – auch trotz der steigenden Lebensmittelpreise und einem knappen Geldbeutel. Zudem gingen bei den Verbraucherzentralen Beschwerden zu versteckten Preiserhöhungen ein. Die Liste der Mogelpackungen wird seit Jahren immer länger, also Produkte, die zum gleichen oder einem höheren Preis, aber mit weniger Inhalt angeboten werden.

Ist es nicht so, dass Lebensmittel in Deutschland bisher im Vergleich zu anderen Ländern eher günstig waren?

Im europäischen Vergleich geben die Deutschen eher wenig für Lebensmittel aus. Aber: Solche Vergleiche sind mit Vorsicht zu genießen, weil das Einkommen hierzulande zum Beispiel deutlich höher ist als in Polen oder Tschechien und deswegen natürlich auch dieser Prozentwert niedriger liegt. Mit zwölf Prozent liegt Deutschland zwischen Österreich und Dänemark und damit relativ gleichauf mit Ländern, die ein ähnliches Lohnniveau haben. Zudem lag noch vor einigen Jahren die Teuerungsrate bei Lebensmitteln unter der allgemeinen Inflationsrate. Das hat sich nun drastisch verändert. Und: Die Preise, die Verbraucher bisher für ihre Lebensmittel bezahlt haben, spiegeln die wahren Kosten dieser Produkte oft nicht wider.

Wie meinen Sie das?

Die externen Kosten, die bei der Produktion von Lebensmitteln anfallen, wie beispielsweise Umweltschäden und Gesundheitskosten, wurden bisher auf die Allgemeinheit abgewälzt. Anbieter von vermeintlich billiger Wurst oder Fertigprodukten haben sich somit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Anbietern von umweltschonenden und tiergerechteren Alternativen verschafft. Wir brauchen also mehr Transparenz über die wahren Preise von Lebensmitteln, um eine nachhaltige Land- und Lebensmittelwirtschaft aufzubauen. Und gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass sich in einem so reichen Land wie Deutschland jeder ausgewogen ernähren kann – unabhängig vom Geldbeutel.

Die Verbraucherzentralen vor Ort sind sehr gefordert. Spüren die Mitarbeiter, dass die Kunden unter Stress stehen, sich der Diskurs verschärft – zwischen Sachlichkeit und Wut?

Alle gehen mit einem hohen Maß an Engagement und viel Herzblut zur täglichen Arbeit. In den vergangenen Monaten haben wir einhergehend mit der Energiepreiskrise durchaus gespürt, dass sich die Tonlage in Teilen verändert hat – auch den Mitarbeitenden in der Verbraucherzentrale gegenüber, die ja alles unternehmen, um möglichst gut zu beraten und Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir sind die helfende Hand, daher ist es schon bitter, wenn Kolleginnen und Kollegen mit Wut und Aggression begegnet wird. Ungeduld und Verzweiflung sind verständlich, Aggression jedoch nicht. Was unsere Beraterinnen und Berater da leisten, ist mitunter auch Sozialarbeit.

Haben Sie genug Rückendeckung aus der Politik?

Anerkennung ja, und zwar sowohl in den Bundesländern, Kommunen, wo wir arbeiten, wie natürlich auch auf Bundesebene. Wir genießen eine hohe Glaubwürdigkeit für die Belange der Verbraucher. Die Politik könnte aber gerne öfter auf uns hören.

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