Wie kann es gelingen, für mehr Chancengleichheit zwischen großen Plattformen und klassischen Händlern zu sorgen? Darüber diskutiert der stellvertretende HDE-Hauptgeschäftsführer Stephan Tromp mit Verbraucherschützer Klaus Müller und Eveline Metzen von Google im Interview.
Frau Metzen, welche Rolle können Plattformen für Händler spielen, die ihr Geschäftsmodell digitalisieren möchten?
Metzen: Plattformen eröffnen einen vergleichsweise unkomplizierten Zugang zum Onlinehandel, der im Vergleich zu einem individuellen Webshop keine größeren Investitionen in eigene Technik erfordert und zudem den Zugang zu einer riesigen Kundengruppe eröffnet. Gleichwohl braucht es vor allem zu Beginn ein wenig Know-how. Dazu haben wir zu Beginn der Coronakrise gemeinsam mit dem HDE die Initiative ZukunftHandel aufgesetzt. Deren Ziel ist es, mittels Trainings einen niedrigschwelligen Einstieg in den Onlinehandel in die Fläche zu tragen. Anfangs ging es also vor allem darum, das Angebot mittels Partnerschaften und Medienkooperationen binnen Kurzem in der Branche bekannt zu machen.
Wie war die Resonanz?
Das Interesse seitens des Handels war unglaublich groß. Bis heute haben wir mit dieser Zukunftswerkstatt rund 400 000 Händler erreichen können, die in kleinen Schritten gelernt haben, die Verknüpfung von Online und Offline zu vollziehen. Ein großes Plus ist, dass dank der auf Plattformen integrierten Tools das Rad nicht jedes Mal neu erfunden werden muss, sondern Einsteiger auf bewährte Strukturen zurückgreifen können. Durch Austausch, Vernetzung und die Vorstellung von Best-Practice-Beispielen innerhalb der Initiative ZukunftHandel konnten Händler zudem viel voneinander lernen, was sie inspiriert hat, ihnen half, Hemmnisse abzubauen, und für einen nachhaltigen Lernerfolg sorgte.
Große Plattformen und Marktplätze sind ein Thema, das nicht allein Verbraucherschützer umtreibt, sondern auch für dort aktive Händler mit Risiken behaftet ist. Viele fürchten, in Abhängigkeit zu geraten und willkürlichen Sperrungen schutzlos ausgeliefert zu sein. Wie begegnet der HDE diesen Sorgen?
Tromp: Wir haben in den vergangenen Jahren ein sehr gutes, aber nicht unkritisches Verhältnis zu den Plattformbetreibern aufgebaut. Nicht allein zu Google, sondern auch zu Amazon und Ebay, die mittlerweile alle Mitglieder des HDE sind. Einige unserer anderen Mitgliedsunternehmen sehen dies ambivalent. Doch die Zusammenarbeit hat einen guten Grund, denn als Verband wollen wir vermitteln und Brücken bauen. Natürlich gibt es immer wieder Diskussionspunkte bei Themen wie Datennutzung, Sperren, Sichtbarkeit, Positionierung oder Bewertung. Solche Herausforderungen lassen sich durch Kooperation meist besser bewältigen als durch ein Gegeneinander. Deshalb bringen wir im Herbst einen gemeinsam mit Google erarbeiteten Leitfaden heraus, der aufzeigt, was Händler unternehmen können, wenn sie mit Bewertungen nicht einverstanden sind.
Der HDE fordert, internationale Plattformen stärker in die Pflicht zu nehmen, weil Gesetze zu Steuern, Zoll sowie Produktsicherheit, Umwelt, Verpackungen und Abfall diesen gegenüber nicht in gleichem Maße wie gegenüber europäischen Anbietern durchgesetzt werden können. Werden das bereits verabschiedete deutsche GWB-Digitalisierungsgesetz und die von der EU-Kommission angestoßene Gesetzesinitiative Digital Markets Act für eine angemessene Chancengleichheit zwischen den Vertriebskanälen sorgen, Herr Müller?
Müller: Jedes Gesetz sollte erst einmal die Chance haben, sich in der Realität zu bewähren. Bislang ist vielen Konsumenten nicht bewusst, dass sie auf Plattformen häufig nicht beim Betreiber kaufen. Daher glauben sie, diese wahre ihre Verbraucherrechte. Doch juristisch gelten die Plattformen bislang weder als Hersteller noch als Händler. Für einen fairen Wettbewerb braucht es jedoch eine belastbare Verantwortung und Haftung der Plattformen. Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass die Digitalisierung nach dem Prinzip „The winner takes it all“ funktioniert. Das heißt, Plattformen können ihre Stärken umso mehr ausspielen, je mehr auf ihnen stattfindet. Potenziell öffnen sie daher das Tor zu einem permanent wachsenden Ökosystem weiterer Dienstleistungen unter demselben Markendach. Das macht einerseits das Leben für die allermeisten Menschen angenehmer, bequemer, vielfältiger und kostengünstiger, führt aber andererseits zu einer Akkumulation von Marktmacht. Dies betrifft viele US-amerikanische Anbieter, ist aber noch ausgeprägter auf dem chinesischen Markt zu beobachten.
Metzen: Was wir brauchen, ist ein Rechtsrahmen, der es ermöglicht, die Balance zu halten zwischen dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger und dem notwendigen Spielraum für Innovationen. Das gilt insbesondere für Start-ups, die nur dann erfolgreich sein können, wenn ihre Geschäftsmodelle schnell skalierbar sind und auch in anderen Ländern angewendet werden können. Mit der GWB-Novelle und dem Digital Markets Act sind wir auf einem guten Weg. Was die Marktmacht angeht, sollten wir nicht vergessen, dass Menschen nicht allein über Google suchen, sondern viele verschiedene Plattformen und branchenspezifische Anbieter nutzen. Diese Vielfalt im Internet ist genau das, was Verbrauchern nahezu grenzenlose Freiheiten und Möglichkeiten eröffnet und von der natürlich auch zahllose Unternehmen ökonomisch profitieren, die Plattformen für ihre Zwecke nutzen.
Müller: Natürlich gibt es andere Suchmaschinen, aber die Dominanz von Google ist monopolistisch. Google ist zu einem Deonym für Scoring-Anbieter geworden, ähnlich wie Tesa oder Tempo in anderen Bereichen. Aus dieser Macht erwächst Verantwortung. Es geht unter anderem um Transparenz, Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen und das Verhindern von Desinformation. In der Praxis schauen die meisten Menschen lediglich die ersten zehn, fünfzehn Treffer an. Insofern lautet die Kernfrage, wie die Ergebnisse und ihre Reihenfolge zustande kommen.
Bedarf es dazu, wie vom Verbraucherzentrale Bundesverband gefordert, einer Algorithmenkontrolle?
Müller: Der Vorschlag, Algorithmen zu kontrollieren, entspringt der Datenethikkommission der Bundesregierung. Die hat gesagt, dass die Frage, ob ein Algorithmus gegen Diskriminierungstatbestände verstößt, von einer berufenen Institution überprüft werden sollte. Das heißt nicht, dass der gesamte Algorithmus offengelegt werden müsste. Es wäre vielmehr wie bei einer Lebensmittelbehörde, die, ohne die exakte Rezeptur zu kennen, kontrolliert, ob die Inhaltsstoffe von Coca-Cola unbedenklich sind. Übertragen auf algorithmische Systeme bedeutet dies: Die Kontrolle sollte ausschließen, dass beispielsweise Google, ein Versicherungsanbieter oder ein Bewerberportal aufgrund von Daten schlechter Qualität oder der Struktur der jeweils verwendeten Algorithmen Menschen diskriminiert.
Tromp: Anfangs war das Internet ein ungeregelter Markt, da ist alles gemacht worden, was technisch möglich war. Inzwischen haben wir lernen müssen, dass vollständige Freiheit meist den Verlust der Freiheit zur Folge hat. Dass wir jetzt auf europäischer Ebene ein Regelwerk für den gemeinsamen Binnenmarkt aufstellen, halte ich daher für einen großen Fortschritt. Denn das Recht, zum Beispiel nicht diskriminiert zu werden, das in der analogen Welt gilt, muss in der digitalen Welt ebenso gelten. Es braucht also eine funktionierende Missbrauchskontrolle. Algorithmen proaktiv zu kontrollieren, halte ich hingegen für nahezu unmöglich. Nach den Plänen aus Brüssel soll die Forschung Zugriff auf die Kerndaten größerer Plattformen erhalten und EU-weit eine neue Beaufsichtigungsstruktur geschaffen werden. Was würde das für Google bedeuten?
Metzen: Das ist schwierig zu ermessen. Wie Herr Tromp denke ich, dass es primär darum gehen sollte, Strukturen zu schaffen, die Missbrauch verhindern. In der Praxis kaum umsetzbar halte ich hingegen den Zugriff auf die Kerndaten. Das würde uns zudem auf einen falschen Weg bringen, der nicht zu dem Ziel führt, das man eigentlich erreichen möchte.
Müller: Das sehe ich komplett anders: Wenn wir über Algorithmen reden, kommen wir nicht daran vorbei, die Daten zu betrachten, mit denen sie gefüttert werden. Bestelle ich beispielsweise etwas über einen Sprachassistenten, stellt sich natürlich die Frage, wer dafür bezahlt hat, dass ein bestimmter Anbieter vorgeschlagen wird, und ob das tatsächlich der beste oder günstigste ist. Noch entscheidender wird es bei personenbezogenen Daten, die mit meinem Suchverhalten oder von mir auf sozialen Netzwerken hinterlassenen Posts verknüpft sind und anhand derer beispielsweise ein Versicherer meinen Risikoscore ermittelt. Datennutzung muss Hand in Hand gehen mit dem Haftungsprinzip, das weiterhin eine unumstößliche Grundlage unserer Marktwirtschaft bleiben muss. Einige Dinge wird man auch verbieten müssen, weil sie schlicht nicht akzeptabel sind.
Tromp: Ich möchte einhaken beim Thema Voice, das meiner Überzeugung nach die Zukunft sein wird. Gerade deswegen muss man schon jetzt sehr genau darauf schauen, wer eigentlich bestimmt, was mit dem Wunsch geschieht, den der Kunde eingibt. Als HDE plädieren wir dezidiert für das Prinzip Open Voice. Denn genauso wenig, wie jemand verpflichtet ist, auf seinem Notebook die Software desselben Anbieters zu verwenden, von dem auch das Betriebssystem stammt, muss bei einem Sprachassistenten der Anbieter der Voice-Technologie nicht derjenige sein, der die nachfolgenden Schritte umsetzt. Eine solche Entkoppelung sorgt für mehr Transparenz und Marktoffenheit und somit auch für Wettbewerb.
Menschen, die sich einen Sprachassistenten ins Wohn- oder gar Schlafzimmer stellen, scheinen sich in der Regel keine solch weitreichenden Gedanken zu machen, sondern schätzen vor allem die Bequemlichkeit…
Tromp: Genau deshalb ist der Gesetzgeber gefragt, da stehen wir als HDE mit den Verbraucherschützern auf einer Seite. Das hat für mich jedoch nichts mit Algorithmenkontrolle zu tun. Hier geht es um gemeines Wettbewerbsrecht, um Monopolbildungen zu unterbinden.
Müller: Als Verbraucher tangiert mich ein Monopol so lange nicht, wie es mich in meiner Wahlfreiheit aus einer großen Anbietervielfalt nicht einschränkt. Doch Automatismen und Skaleneffekte sind in der digitalen Technologie so stark ausgeprägt, dass tatsächlich das Wettbewerbsrecht zur Schwester des Verbraucherschutzes wird. Beide gehören elementar zusammen, um steigende Preise zu verhindern.
Metzen: Niemand bestreitet die Bedeutung von Verbraucherschutz und Wettbewerbsrecht. Nur gerade beim Thema Wettbewerb gibt es bezüglich Google viele Missverständnisse. Die Menschen suchen eben nicht nur bei Google, sondern auf vielfältige Weise neben allgemeinen Suchmaschinen wie Google, Bing oder Ecosia auch über spezialisierte Suchmaschinen: Amazon und Ebay für Produkte, Reisen bei Trivago und Booking, Nachrichten bei Spiegel und Bild. Und im mobilen Netz bewegen sich die Nutzer in Tausenden unterschiedlicher Apps. Der Verbraucher hat im Internet also nahezu unbegrenzte Wahlfreiheit – und das ist gut so.
Kommen wir zum Thema Fake-Bewertungen. Herr Müller, was muss geschehen, um das Problem, das Kunden wie Händler gleichermaßen betrifft, in den Griff zu bekommen?
Müller: Wir alle wissen, wie relevant Bewertungen für das Kaufverhalten der Konsumenten sind, doch diese haben keine Chance, zu ermessen, ob die Bewertungen echt sind. Die Anstrengungen, die große Plattformen betreiben, um Fake-Bewertungen zu löschen, sind aber nicht ausreichend. Wir müssen da ran und jene, die gegen Geld Bewertungen anbieten, entsprechend sanktionieren. Aus meiner Sicht handelt es sich um Betrug.
Tromp: Erschreckend, wie viele Gemeinsamkeiten wir heute zutage fördern, Herr Müller. Konsumenten durch gekaufte Rezensionen zu einer Kaufentscheidung zu verleiten, die sie sonst nicht getroffen hätten, ist zweifelsohne Betrug. Das Gleiche gilt für Mitbewerber, die Bewertungen missbrauchen, um sich Vorteile zu verschaffen. Von Plattformen wie Google erwarte ich, dass sie solche Bewertungen löschen. Zudem muss es eine deutsche Adresse geben, an die Händler anwaltliche Schreiben senden können, um ihr Recht durchzusetzen. Ich bin optimistisch, dass wir mit Google zu einer Regelung finden. Von der neuen Bundesregierung erwartet der HDE, dass Fake-Bewertungen auch als Betrug im rechtlichen Sinne geahndet werden, auch wenn noch kein Vermögensschaden entstanden ist.
Metzen: Da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Tromp. Falsche Bewertungen, insbesondere solche, die in betrügerischer Absicht über Fake Accounts abgegeben werden, sind für uns als Plattform mit das Schlimmste, was passieren kann. Um dagegen vorzugehen, nutzen wir ein dreistufiges Verfahren: Technologie, die Bewertungen scannt und löscht und falsche Accounts sperrt. Darüber hinaus beschäftigen sich weltweit unzählige besonders geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Problem. Zusätzlich haben unsere Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit, Auffälligkeiten zu melden. Allein 2020 vermochten wir so weltweit 55 Millionen Fake-Accounts zu löschen. Gleichwohl müssen wir aushalten, dass jeder kritisch seine Meinung sagt. Interessanterweise stehen die meisten Fälle, die wir vor Gericht ausfechten, nicht im Zusammenhang mit Fake-Bewertungen, sondern werden von Unternehmen vorgebracht, denen eine reale kritische Bewertung nicht passt.
Das Interview erschien am 24. September 2021 im handelsjournal.
Stephan Tromp ist seit April 2000 stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE) sowie Geschäftsführer der Verbandstöchter HDE Trade Services GmbH und IFS Management GmbH. Beim HDE ist Tromp unter anderem für das Querschnittsthema Digitalisierung verantwortlich. Zudem hat er seit 2002 den weltweit gültigen Auditierungsstandard IFS für Handel und Industrie zur Lieferantenbewertung aufgebaut.
Eveline Metzen ist seit Juli 2020 Leiterin Government Affairs und Public Policy in Deutschland, Österreich und der Schweiz bei Google. Zuvor war sie General Manager der American Chamber of Commerce in Germany (2016-2020) und leitete von 2011 bis 2016 als geschäftsführendes Vorstandsmitglied die Atlantik-Brücke. Zuvor war sie geschäftsführende Direktorin des Amerika Hauses Nordrhein-Westfalen (2008 bis 2010).
Klaus Müller ist seit Mai 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). Von 2006 bis 2014 leitete Müller die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Zuvor war der Volkswirt in der Politik tätig: von 2000 bis 2005 als Umweltminister in Schleswig-Holstein, bis 2006 als Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Von 1998 bis 2000 war Klaus Müller Abgeordneter des Deutschen Bundestages.