Datum: 10.09.2021

Homeoffice: Verbraucherschutz-Chef für Pendler-Ticket

Interview mit vzbv-Vorstand Klaus Müller

Hinter Deutschlands oberstem Verbraucherschützer Klaus Müller liegt ein stressiges Jahr. Die Anfragen bei den Verbraucherzentralen sind im Pandemiejahr 2020 in die Höhe geschossen, vom Abrufen der Hilfsmaßnahmen über die Erstattung ausgefallener Flugreisen bis hin zum Verhindern neuer Betrugsmaschen berieten die Verbraucherschützer. Als Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) laufen bei Klaus Müller die Fäden der Verbraucherzentralen zusammen. Nun kommt auch noch die Flutkatastrophe hinzu.

Portrait vzbv Vorstand Klaus-Müller, Copyright: Gert Baumbach - vzbv

Quelle: Gert Baumbach - vzbv

Herr Müller, wie fällt Ihre Bilanz nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie aus?
Im Nachhinein weiß man, dass Deutschland auf eine Pandemie schlecht vorbereitet war. Dafür hat die Bundesregierung vor allem anfangs viel richtig gemacht. Aber die Fehler müssen aufgearbeitet werden. Der nächste Bundestag sollte eine Enquetekommission einsetzen, die ermittelt, wie wir medizinisch vorbereitet waren, wo der Föderalismus funktioniert hat und wo nicht und ob die Hilfen für Verbraucher und Unternehmen wirklich den gewünschten Effekt hatten.

Was ist Ihr Eindruck bei den Hilfen?
Es waren vor allem Wirtschaftshilfen und zu wenig Verbraucherhilfen. Die Mehrwertsteuersenkung hat kaum gewirkt, von der EEG-Umlagensenkung hat kein Verbraucher etwas gespürt. Immerhin der Kinderbonus war eine gute Maßnahme

In den ersten Bundesländern hat das neue Schuljahr bereits begonnen. Wieder fehlt es an Konzepten und Luftfiltern.
Dass es an Luftfiltern und Schutzkonzepten fehlt, ist eines der größten politischen Versagen des vergangenen Winters, des Frühjahrs und nun des Sommers. Es ist kein Allheilmittel gegen Corona, aber natürlich braucht es Luftfilter und eine angemessene Ausstattung in den Schulen. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir nicht weiterkommen. Die Pandemie zeigt, dass der Föderalismus in Deutschland an einigen Ecken dringend überprüft werden muss – beim Digitalpakt haben wir das ja auch geschafft. Wenn einige so tun, als ob das Ende der Sommerferien überraschend käme, dann ist das schlicht peinlich.

Das Homeoffice wird in vielen Betrieben bleiben. Muss sich auch der öffentliche Personennahverkehr auf die neuen Pendelgewohnheiten einstellen?
Der ÖPNV muss deutlich flexibler werden, was die Kundenbedürfnisse angeht. Wenn es nur ein Jahres-, Monats- oder Wochenticket gibt, dann entspricht das nicht mehr dem Nutzerverhalten. Gerade für Pendler braucht es neue, flexible Angebote, eine Art Homeoffice-Ticket für nur einzelne Wochentage. Aber der ÖPNV ist leider ein Krisenverlierer. Daher muss der Bund zusätzlich massiv investieren und die Mittel an Angebots und Qualitätsziele knüpfen. Auch die extreme Kleinstaaterei von Verkehrsunternehmen und -verbünden gehört überwunden.

Viele Verbraucherinnen und Verbraucher treibt im Homeoffice das Thema Ernährung um. Aldi, Lidl und Co. setzen auf bessere Fleischqualität. Ist dies aus Ihrer Sicht der richtige Weg für mehr Tierwohl?
Die Mehrheit der Bevölkerung hält die heutige Tierhaltung nicht mehr für akzeptabel. Wir begrüßen es daher, dass Aldi ab 2030 nur noch Frischfleisch aus den beiden höheren Haltungsstufen 3 und 4 anbieten will und den Anteil ab sofort schrittweise erhöht. Alle Handelsunternehmen sollten diesem Schritt folgen. Damit es allen Nutztieren besser geht, braucht es jedoch nicht nur freiwillige Initiativen des Handels, sondern einen verbindlichen und ambitionierten Umbau der gesamten Tierhaltung. Die gesetzlichen Haltungsstandards müssen angehoben, die Kontrolle verbessert und das staatliche Tierwohllabel eingeführt werden. Die nächste Bundesregierung muss das zügig auf die Agenda setzen.

Können sich künftig weniger Betuchte noch Fleisch leisten?
Ein großer Teil der Verbraucher ist bereit, für Fleisch aus besserer Tierhaltung auch mehr zu bezahlen. Billigpreise für Fleisch sind eine Täuschung, denn die wahren Kosten – zum Beispiel negative Auswirkungen auf Umwelt, Gesundheit und Tierwohl – zahlen Verbraucher bereits heute, nur an anderer Stelle. Ich persönlich kehre gerne zu den Gewohnheiten meiner Großeltern zurück, mit einem Braten am Sonntag, Fisch am Freitag. Ansonsten dürfen es gerne schmackhafte vegetarische Speisen sein.

Was halten Sie von der Einführung einer Zuckersteuer?
Die Corona-Krise wird das Problem von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen verschärfen. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat eine Abgabe auf Zucker, Salz oder Fett vorgeschlagen. Aus Sicht des vzbv würde eine Abgabe auf Süßgetränke deren Zuckergehalt reduzieren und somit für eine gesündere Ernährung sorgen. Viele Länder wie etwa Großbritannien sind hier schon weiter.

Das extreme Hochwasser hat vielen Menschen ihr Hab und Gut genommen. Wie sollten Hausbesitzer und Mieter künftig besser vor solchen Katastrophen geschützt werden?
Zunächst muss den Menschen unbürokratisch geholfen werden. Starkregenereignisse werden zunehmen. Der Klimawandel ist im Gange, mit allen Gefahren, die damit verbunden sind. Die Regierung muss deshalb einen neuen Versicherungsschutz vorbereiten.

Sollte die Elementarversicherung zur Pflicht werden?
Aktuell sind 47 Prozent der Hausbesitzer gegen Elementarschäden versichert. Doch diese freiwillige Quote muss dringend auf mindestens 80 Prozent erhöht werden. In Baden-Württemberg sind es 95 Prozent, da dort die Elementarversicherung bis vor wenigen Jahren eine Pflichtversicherung war. Eine Pflichtversicherung für alle Hausbesitzer wäre jedoch ein tiefer Eingriff in die Grundrechte. Menschen würden gezwungen, eine Versicherung abzuschließen. Das kennt man in Deutschland nur bei der Haftpflichtversicherung für Autos – und zwar, um andere zu schützen. Die Gefahr besteht, dass eine Pflichtversicherung schnell höchstrichterlich gekippt werden könnte. Wir fordern deshalb, dass in der Wohngebäudeversicherung künftig die Option einer Allgefahrenabwehr automatisch angeboten wird. Damit wird den Hausbesitzern klargemacht, wie groß die Risiken sind. Doch man kann sie auch abwählen, wodurch es keine verfassungsrechtlichen Probleme mehr gäbe.

Eigentlich müsste die Einsicht für eine solche Pflicht doch vorhanden sein?
In den nächsten zwei Jahren brauchen wir eine Informationskampagne, die aufklärt, dass die Folgen des Klimawandels jeden treffen können. Vor der Bundestagswahl versprechen alle Parteien finanzielle Hilfen, doch ob dies danach noch der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Ein Versicherungsschutz ist dagegen ein Rechtsanspruch.

Warum nicht alle zu ihrem Glück zwingen?
Das wäre der zweite Schritt. Sollte sich zwei Jahre nach Einführung der Allgefahrenabdeckung herausstellen, dass die Verbreitung der Absicherung nicht mindestens 80 Prozent erreicht, wird die Einführung einer Versicherungspflicht notwendig. Dies ist vor dem Hintergrund des Karlsruher Klimaschutzurteils auch gerechtfertigt. Allerdings sollten die Kosten für die Versicherung nicht auf die Mieter umgelegt werden können, denn ich möchte nicht, dass die Mieterinnen und Mieter in Berlin oder im Ruhrgebiet die Hausbesitzer in Sachsen oder Baden-Württemberg quersubventionieren.

Sollten Nichtversicherte sonst die Schäden selbst tragen, statt auf Staatshilfe zu hoffen?
Hier schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Sicher, Hausbesitzer haben eine Eigenverantwortung. Doch wer kann seinem Nachbarn, dessen Existenz vernichtet und der nicht versichert ist, in die Augen blicken und sagen, dass er keine Hilfe erhält, weil er nicht vorgesorgt hat? Ich möchte das nicht. Wir sind eine solidarische Gesellschaft, erst recht bei Katastrophen.

Das Interview erschien am 9. August 2021 bei FUNKE MEDIEN.

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